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°  Essen verteilen, statt wegwefen


 

 

Essen verteilen statt wegwerfen

Verrückt: Etwa 250'000 Tonnen Lebensmittel werden in der Schweiz jedes Jahr vernichtet, noch bevor sie in einen Laden gelangt sind. Der Verein "Tischlein deck dich" will das ändern.
 

In der Riesenhalle des Howeg-Verteilzentrums im Dietiker Industriegebiet ist zuhinterst ein einzelner Raum abgetrennt. Auf den ersten Blick sieht man den Paletten mit Büchsen, Bidons und Säcken nichts Besonderes an. Und doch hat jedes Produkt einen kleinen Makel Die Gastropackung Coca-Cola ist zu kurz datiert. Die 2-Kilo-Büchse Thon und der 3-Kilo-Kanister Olivenöl Extra Vergine haben kleine Delle.. Die 5er-Packungen Frigor-Schoggi sind falsch codiert. Im 12er-Pack San Pellegrino fehlt eine Flasche, da hatte jemand Durst.

Das Kultgetränk Red Bull, in braunen Fläschchen statt in der Silberdose, hatte keine Chance auf dem Markt.

"Alle diese Produkte", sagt Samuel Sägesser, "würden normalerweise in der Müllverbrennung oder als Tierfutter enden, weil es für den Handel zu teuer ist fehlerhaft oder fast abgelaufene Produkte auszuwechseln." Etwa 250'000 Tonnen Ware wird so in der Schweiz jedes Jahr vernichtet, noch bevor sie in die Läden kommt. Pro Einwohner macht das etwa 35 Kilogramm aus. Samuel Sägesser kennt diese Fakten aus seiner Zeit als Manager im Milchprodukte- und Getreidesektor, und sie störten ihn schon damals. Jetzt ist Sägesser 57 und möchte "der Gesellschaft etwas zurückgeben": Seit ein paar Monaten ist er Geschäftsführer des Vereins "Tischlein deck dich".

Das Ziel von "Tischlein deck dich" leuchtet ein: überschüssige Ware an Leute verteilen, die unter dem Existenzminimum leben. In der ganzen Schweiz sind das rund 750’000 Personen, und wegen der Krise werden es immer mehr.

Den Anstoss zur Umverteilung gab, wie beim amerikanisches Vorbild City Harvest, eine Frau: Anja Hübner, Gattin eines Managers aus der Nahrungsmittelindustrie, begann 1999 im Raum Zürich unverkäufliche Waren an Bedürftige zu verteilen. Als die Initiantin schwanger würde, drohte die Aktion einzuschlafen. Es war dann Beat Curti, Lebensmittelhändler und Mehrheitsaktionär der Bon-Appétit-Gruppe (siehe Kästchen) der fand die Umverteilungsidee sei so gut, dass sie professionalisiert werden müsse. Offenbar traf er damit einen Nerv: Auf ein Inserat, mit dem "Tischlein deck dich" einen Geschäftsführer suchte, meldeten sich etwa 80 Leute. Das Rennen machte dann eben Samuel Sägesser.

 

Vor dem Verfallsdatum
"Jetzt sind wir daran, unser Verteilten auf die ganze Schweiz auszudehnen", sagt der Geschäftsführer. Am besten erreiche man die Bedürftigen über die Kirchgemeinden: "Working Poor gehen nicht gern aufs Sozialamt, weil sie befürchten, in die Mühlen des Staates zu geraten." Wenn die Produktespender - Firmen der Bon-Appétit-Gruppe und Grossverteiler - ihre Ware ankündigen, fragt Sägesser immer zuerst: Ist die Konsumationsfrist noch nicht abgelaufen? Sieht die Ware gut aus?

Die Lieferanten bringen die Produkte, "vom Salatkopf bis zur Zahnbürste", nach Dietikon. Dort teilt Durim D., Teilnehmer eines Beschätigungsprogrammes, die Ware so ein, dass sie innerhalb des Verfalldatums in die Abgabestationen gelangt. Bei unserem Besuch sind leicht eingedellte Plastikdosen mit Chilisauce an der Reihe. Damit die Beschenken daraus eine Sinnvolle Mahlzeit zubereiten können, kombiniert Durim Tacos dazu. Packungen, die zu gross sind für Privathaushalte gibt man weiter an Non-Profit-Organisationen. "Oder wir chartern zusammen mit der Caritas einen Lkw und bringen die Ware nach Osteuropa", berichtet Sägesser. Sogar abgelaufene Salatsaucen und -öle finden noch Verwendung; sie gehen an einen Biogasproduzenten. Ohne logistische Unterstützung und die Anschubfinanzierung durch die Bon-Appétit-Gruppe - rund 700 000 Franken, verteilt auf zwei Jahre - käme "Tischlein deck dich" nicht über die Runden. Doch ab Mitte 2004, das war schon immer klar, muss der Verein endgültig auf eigenen Füssen stehen.

Samuel Sägesser ist auf der Sponsorensuche. Als Marketingprofi hat er bereits Ideen: Das Engagement bei "Tischlein deck dich" soll eine Art Label für Sozialsponsoring werden. "Die Firmen könnten auf ihre Geschäftsdokumente den Satz drucken ‘Wir sind Mitglied von Tischlein deck dich’", schlägt Sägesser vor. So entstünde mit der Zeit "ein grosses Beziehungsnetz - von den Produzenten über die Sponsoren und Sozialstellen bis zu den Bedürftigen. Und damit auch ein effizienter Wirtschaftskreislauf. Und die Bezugsausweise, sinniert Sägesser, könnte man auf kulturelle Angebote ausdehnen und so die Working Poor ein bisschen aus der Isolation holen.

 

12 Sunden Auslieferung
Wenn man Samuel Sägesser so zuhört, meint man, der 57-jährige Berner habe nie etwas anderes gemacht als diese Sozialbüez. Sein Elan steckt auch Freiwillige an. Zum Beispiel Esther Halter. Die 32-jährige Kommunikationsberaterin hat bereits die "Tischlein-deck-dich"-Homepage inhaltlich überarbeitet und besorgt nun die PR. Sägesser, der Manager, der früher auch Leute entlassen musste, ist nach 12 Stunden Ware herumfugen jeweils hundemüde. Aber es sei eine "zufriedene Müdigkeit": Die meisten Bedürftigen zeigten sich sehr dankbar. Manchmal gebe es jedoch auch solche, die man "ein wenig zwägstutzen" und sagen müsse: "Es hat, was es hat. Wenn du Auswahl willst, musst du in die Migros.


"Tischlein deck dich" ist von den Restrukturierungsmassnahmen des Hauptsponsors Bon Appetit (TA v. 3.3.03) nicht betroffen. "Wir sind stolz auf dieses soziale Engagement und werden es wie geplant weiterführen". sagte Unternehmenssprecher René Kalt gestern auf Anfrage.

"Tischlein deck dich" verteilt jeden Montag Lebensmittel in, Kirchgemeindehaus Oerlikon, im Heilsarmee-Café "Open Heart" an der Luisenstrasse‘ in der Gassenküche an der Nordstrasse und in verschiedenen Heimen. So erreicht man, pro Monat etwa 1300 Armutsbetroffene. In den nächsten Wochen sollen in Zürich zwei weitere Abgabestellen hinzukommen. Auch in Bern und Genf ist "Tischlein deck dich» aktiv. Bis Ende 2003 will man die

Abgabemenge auf total 280 Tonnen verdoppeln. Das Netz der Abgabestellen soll ausgedehnt werden auf Winterthur, Zug, Luzern, St. Gallen. Aarau, 0lten und die Nordwestschweiz. Um Missbräuche zu verhindern, müssen die Bedürftigen einen Bezugsausweis vorlegen, welcher von einer Sozialstelle ausgestellt ist.

Damit die Ausbaupläne gelingen. sucht "Tischlein deck dich» jetzt Freiwillige zum Verteilen der Lebensmittel sowie soziale Institutionen, welche Abgabelokale zur Verfügung stellen und Bezugsausweise ausstellen. Dringend gesucht sind auch Sponsoren. (lan.)

SCHWEIZ:
    "Tischlein deck dich». Reservastr. 1, 8953 Dietikon, Tel. 01-746 54 14, www.tischlein.ch
 

DEUTSCHLAND:   Schweinfurter-Tafel e.V., An den Schanzen 6, D-97421 Schweinfurt,
Tel. 09721/20 87 108, www.schweinfurter-tafel.de



 

 

 

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