Träume können einen Sog erzeugen. Auch und
gerade dann, wenn es Realträume sind, die einen radikalen Paradigmenwechsel
fordern. Einen solchen Sog spüre ich seit einigen Jahren, nicht erst, seit im
März 2007 Einkommen für alle erschienen ist und ich auf zahlreichen
Veranstaltungen für die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens geworben und
gestritten habe.
Die Idee des Grundeinkommens hat – noch einmal verstärkt durch dieses Buch –
inzwischen eine solche Kraft entfaltet, dass ich mich im Sog dieser Debatte
schon seit über zwei Jahren von der operativen Führung meines Unternehmens mehr
und mehr zurückgezogen habe. Seit Mitte Mai 2008 liegt sie, wie allerdings schon
lange geplant, vollständig in den Händen meines Nachfolgers Erich Harsch. So bin
ich heute beileibe kein Rentner, sondern hauptberuflicher „Wanderprediger“ – so
der Spiegel – für die Idee des Grundeinkommens geworden. Als solcher sehe ich,
dass sich schon einiges verändert hat, seit das Buch auf den Markt kam. Man
müsse die Idee erst einmal denken können, man müsse sie zulassen, dann entfalte
sich von allein eine Dynamik im Bewusstsein der Gesellschaft, habe ich damals
formuliert. Genau das ist eingetreten: Die Idee geistert keineswegs nur in
kleinen Zirkeln hoffnungsloser Idealisten oder radikaler Spinner herum, sondern
sie wird tatsächlich überall diskutiert und weitergedacht. Und das inzwischen
sogar viel sachlicher und zugleich fantasievoller als noch vor knapp zwei
Jahren, als der Vorwurf der Fantasterei stets sehr schnell zur Hand war.
In (fast) jeder Partei gibt es inzwischen
Stäbe, die sich ernsthaft mit dem Thema befassen. Immer wieder liest man in
der seriösen Presse Beiträge namhafter Autoren, die sich – mehr oder weniger
sachkundig – an dem Thema abarbeiten. Das eingefrorene, erstarrte Denken in
dieser Frage hat an vielen Ecken gleichzeitig angefangen, sich zu verflüssigen.
Das merke ich auch bei meinen Veranstaltungen. Ich dränge die Idee ja niemandem
auf, noch bewerbe ich mich aktiv, irgendwo einen Vortrag halten zu dürfen.
Beides, die Fragen wie die Anfragen, entstehen vielmehr durch das Interesse
vieler, also den oben genannten Sog. Je weitere Kreise die Debatte in der
Gesellschaft zieht, desto mehr ändern sich nach meiner Beobachtung der Charakter
der Fragen und die Richtung der Einwände.
So fällt zum Beispiel auf, dass der frühere Standardeinwand, mit einem
monatlichen bedingungslosen Grundeinkommen auf dem Konto ginge ja wohl kein
Mensch mehr arbeiten, zunehmend an Bedeutung verliert. In Diskussionen – wie
auch in diesem Buch – bin ich auf diese Bedenken lange verhältnismäßig
ausführlich eingegangen. Wo sie heute noch vorgebracht werden, frage ich meist
nur noch, ob der Redner seine Arbeit tatsächlich derart sinnlos und langweilig
findet, dass er für einige hundert oder auch tausend Euro zu Hause bleiben
würde. Wir müssten ja nur dann damit rechnen, dass ein Großteil der Menschen
bei einem Grundeinkommen von anfänglich vielleicht 600 Euro zu arbeiten aufhört,
wenn schon heute ein Großteil der Menschen den Hammer fallen ließe, sobald sie
eine solche Summe in der Tasche haben. Warum tut das niemand? Weil die Menschen
mehr wollen. Finanziell und biographisch. Und wer wollte ernsthaft glauben, dass
sich das bei einem Grundeinkommen nachteilig verändert?
Nun bin ich weder so naiv noch so eitel zu glauben, dass diese Entwicklung
allein meinen Argumenten zu verdanken ist. Vielmehr ist sie ein gutes
Beispiel dafür, wie sich Denken und Wahrnehmung in der Gesellschaft selbst
verändern. Es ist kein Geheimnis, dass ich ein Gegner der Einführung
gesetzlicher Mindestlöhne bin. Wer glaubt, er könne am Markt vorbei dekretieren,
wer wem unter welchen Bedingungen welche Löhne zu zahlen hat, der wird im
Zweifelsfall den Betroffenen nicht etwa ein Einkommen garantieren, sondern die
Einkommensmöglichkeiten beschneiden. Er könnte aus der Tatsache, dass jeder
Mensch Brot, Milch, Kartoffeln, Schnitzel oder grüne Bohnen braucht, genauso gut
den Schluss ziehen, man müsse die Preise für bestimmte Grundnahrungsmittel
staatlich festlegen. Oder den Gaspreis subventionieren. Am Ende winkt immer die
Planwirtschaft. Allerdings hat die Diskussion um Mindestlöhne unbestritten auch
etwas Gutes: Sie hat erneut ein allgemeines Bewusstsein dafür geschaffen, dass
jeder Mensch ein Einkommen braucht, von dem er menschenwürdig leben kann. Da
aber bei offiziell nach wie vor über drei Millionen Arbeitslosen ganz
offensichtlich ist, dass selbst mit einem Mindestlohn dieses Einkommen nicht
jedem garantiert wäre, stellen sich die Menschen beinahe automatisch die Frage,
wie dies denn anders erreicht werden könnte.
Hinzu kommt noch etwas: Die Forderung nach Mindestlöhnen hat ihren vernünftigen
Kern ja darin, dass heute rund 1,3 Millionen Menschen in Deutschland von ihrem
Arbeitseinkommen tatsächlich nicht leben können, weshalb sie Zusatzleistungen
nach Hartz IV beziehen – das ist ein Viertel aller Empfänger.
Diese schönfärberisch als „Aufstocker“ bezeichneten Arbeitnehmer stünden sich
finanziell nicht schlechter, wenn sie auf ihrem sprichwörtlichen Sofa sitzen
blieben und Arbeitslosengeld II bezögen. Wenn aber Menschen für am Ende karge
750 Euro arbeiten gehen, obwohl sie diese Summe auch so bekommen könnten, dann
muss es dafür ganz offensichtlich eine Menge anderer Gründe geben als bloß das
Geld: der Wille, etwas Sinnvolles zu, der Wunsch nach Selbstbestätigung, das
Bedürfnis nach sozialer Einbindung, die Angst vor der Leere des totalen
Nichtstuns. Wenn solche oder andere intrinsische Motive Menschen aber schon
dazu treiben, miserabel bezahlte Tätigkeiten aufzunehmen, die an sich selbst
häufig auch noch unbefriedigend sind, was würde dann erst passieren, wenn es ein
bedingungsloses Grundeinkommen für alle gäbe und sie darüber hinaus verdienen
könnten? Dann würde sich gewiss für sinnentleerte Billigjobs überhaupt niemand
mehr finden. Oder deren Bezahlung müsste so attraktiv sein, dass zum Beispiel
geringer Qualifizierte wenigstens in dem zusätzlichen Verdienst einen Sinn
sehen. Alles andere wäre Zwangsarbeit oder – politisch verbrämt –
„Arbeitspflicht“. Aus diesem Grund verschwindet übrigens auch der lange fast
sprichwörtliche Müllmann aus meinen Diskussionen. Offenbar haben die meisten
Menschen von selbst eingesehen, dass solche schweren und schmutzigen Arbeiten
nicht nur gesellschaftlich höchst notwendig, sondern vielleicht auch zu schlecht
bezahlt sind.
Indem viele Einwände aus der Kategorie „Der Mensch ist schlecht, egoistisch,
faul und gierig“ – Einwände, die natürlich immer bloß auf die Anderen zutreffen
– langsam unwichtiger werden, nehmen die sinnvollen Diskussionen zu. Dazu gehört
die Frage, ob und wie ein bedingungsloses Grundeinkommen finanziert werden kann.
Auch hier beginnt sich die Debatte zu versachlichen.
Anfangs wurde ich – vorzugsweise von
besonders hellsichtigen Ökonomen – gerne mit folgender Milchmädchenrechnung
konfrontiert: Würde man jedem Bundesbürger ein Grundeinkommen von 1500 Euro
zahlen, dann müsste der Staat dafür ja rund 1,3 Billionen Euro ausgeben. Ich
würde also trockenen Auges vorschlagen, für meine absurde Idee unser
Volkseinkommen von 1,82 Billionen fast vollständig und unser
Bruttoinlandsprodukt von rund 2,4 Billionen Euro zu mehr als der Hälfte zu
verpulvern.
Inzwischen beginnt sich zum Glück die an sich nicht sonderlich schwer zu
erlangende Einsicht durchzusetzen, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen keine
zusätzliche „soziale Wohltat“ wäre. Denn es würde die vorhandenen Einkommen
selbstredend nicht ergänzen, sondern zum Teil ersetzen. Die Nettoeinkünfte
all jener, die mehr als den Grundeinkommensbetrag verdienen, blieben
unverändert. Faktisch haben ja in Deutschland nicht nur die rund 40 Millionen
abhängig Beschäftigten und die circa 2,3 Millionen Selbstständigen ein
Einkommen, sondern auch die übrigen 40 Millionen Menschen – sei es nun aus
staatlichen Transferleistungen, sei es aus familiären Quellen.
Zugegeben: Bei Deutschlands Spitzenverdienern wie dem Dauerprügelknaben Josef
Ackermann (14,3 Millionen), Siemens- Chef Peter Löscher (11,5 Millionen) oder
Daimler-Boss Dieter Zetsche (10,7 Millionen) würde der jährliche Abzug von 9000
oder auch 18000 Euro Grundeinkommen nur unwesentlich ins Gewicht fallen. Bei der
Kassiererin im dm-drogeriemarkt, nach der ich weiterhin gerne befragt werde und
die zwischen gut 1300 und knapp 2100 Euro brutto im Monat verdient, wäre es mit
Sicherheit Verhandlungssache, ob sie schon für wenige hundert Euro zusätzlich
Lust hat, bei uns zu arbeiten. Tatsächlich aufgebracht werden muss das Geld zur
Finanzierung eines bedingungslosen Grundeinkommens – nach Abzug des größten
Teils der heute gezahlten Sozialtransfers von rund 700 Milliarden Euro – nur für
jene, deren Einkommen unterhalb des fraglichen Betrags liegt. Dieses sogenannte
Delta zwischen den heute erzielten Einkommen einerseits und den niedrigeren bzw.
fehlenden Einkommen andererseits liegt nach vorläufigen Berechnungen des von mir
geleiteten Interfakultativen Instituts für Entrepreneurship der Uni Karlsruhe
(TH) bei höchstens 70 Milliarden Euro, wenn man von einem Grundeinkommen von
zunächst 800 Euro ausgeht. Ich behaupte nicht, dass man das aus der Portokasse
bezahlen kann. Aber ich behaupte sehr wohl, dass sich für solche Summen, anders
als bei der obigen Milchmädchenrechnung, Strategien einer Gegenfinanzierung
formulieren lassen. Allein mit einer schrittweisen Erhöhung der
Mehrwertsteuer auf EU-konforme 25 Prozent, wie heute schon in Dänemark und
Schweden der Fall, ständen rund 50 Milliarden Euro dafür zu Verfügung. Wenn dann
noch Privilegien bei der Einkommens- und Ertragssteuer gestrichen würden, wäre
die Gegenfinanzierung bereits gewährleistet.
Wenn man versteht, dass die Einkommensströme in unserer Gesellschaft nur aus
einer volkswirtschaftlichen Gesamtperspektive heraus betrachtet werden können,
dann lassen sich auch grundsätzliche Umsteuerungen dieser Ströme ‚rechnen’. Das
war bei anderen historischen Systemwechseln – etwa von der Bestands- zur
Einkommensbesteuerung oder der Einführung der gesetzlichen Sozialversicherung –
nicht anders. Die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens wäre ohne
Frage ein Systemwechsel. Niemand behauptet, dass dieser einfach wäre. Aber er
ist politisch, rechtlich und auch finanziell möglich. Das ist nebenbei alles
andere als eine politisch „linke“ Einsicht. Es war der katholische Sozialethiker
Oswald von Nell-Breuning, der gesagt hat:
„Alles, was sich güterwirtschaftlich erstellen lässt […], das lässt sich auch
finanzieren unter der einzigen Bedingung, dass man es ehrlich und ernstlich
will.”
Was die Frage der Finanzierung betrifft, glaube ich allerdings immer noch, dass
man hier schnell in die Rechenfalle tappt. Je mehr Menschen verstehen, dass
volkswirtschaftlich betrachtet schon heute ein Einkommen nicht nur für alle
erwirtschaftet, sondern tatsächlich auch an alle verteilt wird, dann verliert
die Rechenfrage beträchtlich an Dramatik – denn das Grundeinkommen ist längst
finanziert. Die Gesellschaft muss keine neuen Geld- und Einkommensströme
generieren, sie muss die existierenden nur vernünftiger organisieren. Und
nur nebenbei: Wenn man nach Beispielen für eine oftmals ineffiziente, ja
kontraproduktive Allokation finanzieller Mittel suchen will, dann wird man sie
besonders häufig in jenen öffentlichen Haushalten finden, aus denen man das
Grundeinkommen angeblich niemals wird finanzieren können. Detaillierte so
genannte Rechenmodelle, und das ist die Falle, erwecken den falschen Eindruck,
man könne einen stufenweisen und langfristigen Transformationsprozess im Voraus
auf die dritte Nachkommastelle einfach durchrechnen. Das ist Scheinpräzision.
Denn im Laufe der Entwicklung werden sich zahlreiche Variablen in einer Weise
verändern, die sich heute noch gar nicht im Einzelnen prognostizieren lässt. Für
die allein aus Erwerbeinkommen finanzierten und daher vom Kollaps bedrohten
Sozialsysteme von heute gilt dies übrigens genauso. Mit den entlang der
Zeitachse notwendig zunehmenden Fehlern und Plausibilitätsmängeln, die man dabei
produziert, wird man daher in aller Regel nur vorher nachzuweisen versuchen,
dass etwas nicht geht, statt unterwegs die Einzelschritte so auszupassen, dass
es geht. Insofern bleibe ich dabei: Es geht um eine Bewusstseinsfrage, darum,
ein Gefühl für den Prozesscharakter des sozialen Wandels zu bekommen, und die
Idee des Grundeinkommens erst einmal denken zu können. Dann finden sich auch
Wege zur Umsetzung.
Das Gegenteil der Rechenfalle ist freilich die Abstraktionsfalle. Mit
prinzipiellen Argumenten wie den oben genannten kann man die Idee nämlich auch
in den Wolken verdampfen lassen. Deshalb muss man sich, und das ist auch mir in
den letzten zwei Jahren klarer geworden, über die möglichen ersten Schritte auf
dem Weg zu einem bedingungslosen Grundeinkommen für alle sehr wohl Gedanken
machen. Hier gibt es meiner Meinung nach grundsätzlich drei mögliche Wege: die
Labormethode, die Häppchenmethode und die Wellenmethode.
Beginnen wir mit der Labormethode: Man könnte ein Grundeinkommen zunächst
versuchsweise einführen, um seine ökonomischen, fiskalischen, gesellschaftlichen
oder psychologischen Folgewirkungen zu studieren, bevor man es auf Grundlage der
entsprechenden Erfahrungswerte flächendeckend etabliert. Die beiden Hauptfragen
lauten dann: Wo und wie lange probiert man das aus? So ging man zum Beispiel bei
den häufig als Negativbeispiel angeführten Grundeinkommensexperimenten während
der Siebzigerjahre in den USA vor. Doch was geschieht, wenn man ein
Grundeinkommen zeitlich oder lokal begrenzt einführt? Es kommt logischerweise
entweder zu dramatischen Verzerrungen oder zu Mitnahmeeffekten. Das wäre
ungefähr so, als würden wir von Rechts- auf Linksverkehr umstellen, und erst
einmal mit den Lastwagen anfangen, um zu sehen, ob es funktioniert. Nehmen wir
an, dass es ab 2010 im Breisgau ein bedingungsloses Grundeinkommen gäbe. Den
Wunsch vieler Menschen, deshalb nach Freiburg und Umgebung zu ziehen, wird man
durch Festlegung einer Mindestwohndauer noch bremsen können. Damit entfallen
aber keineswegs die tausend anderen guten Gründe, sich dort niederzulassen: die
schöne Landschaft, die hohe Lebensqualität, ein attraktiver Arbeitsplatz, ein
Studium an einer der deutschen Elite-Unis, das Heimweh, die Liebe und so weiter.
Höchstens wird es für eingesessene Badener in dieser Zeit etwas weniger
attraktiv, aus den gleichen Gründen nach Hamburg oder München zu ziehen. In
jedem Fall aber wird ein großer Teil unserer Versuchspersonen kein
Grundeinkommen beziehen. Dieses wäre bei Licht betrachtet also bloß eine Art
Eingeborenenprämie. Und die Aussagekraft unseres Experimentes wäre ziemlich
begrenzt.
Nicht besser sähe es aus, wenn wir den Breisgau einzäunen, dafür das Geld an
alle auszahlen, die am Tag X innerhalb des Käfigs wohnen, und unseren Versuch
auf zwei Jahre anlegen. Dann käme es nämlich sogar dann zu Mitnahmeeffekten,
wenn unsere Probanden allesamt Heilige wären. Ohne jeden Zweifel würde im
Breisgau weiterhin gearbeitet. Aber viele Hausbesitzer würden erst mal gründlich
renovieren. Viele junge Frauen würden sich genau in dieser Zeit entscheiden,
Kinder zu bekommen. Wer pflegebedürftige Angehörige hat, der würde aufatmen.
Überdurchschnittlich viele junge Menschen, die aus Sorge um ihre Berufschancen
vor einem möglichen Studium erst eine Ausbildung aufnehmen wollten, würden
direkt studieren. Wer Sorge hat, sich ein Studium nicht leisten zu können, würde
ebenfalls weniger zögern – was immerhin ein positiver Effekt wäre. Wer ein Buch
schreiben will, wäre gut beraten, das in der Versuchsphase zu tun. Und wem sein
Job zum Hals heraushängt, der wird, solange er kein hohes Schmerzensgeld
bezieht, vielleicht wirklich zwei Jahre Urlaub auf bescheidenem Niveau machen.
Der Witz ist immer der gleiche: All jene Mitnahmeeffekte, die Gegner eines
bedingungslosen Grundeinkommens ins Feld führen, werden gerade dann eintreten,
wenn man seine Einführung zeitlich befristet. Jeder Laborversuch wäre deshalb
eine negative self fulfillig prophecy. Wer die kurzzeitigen Mitnahmeeffekte
nicht nutzte, der verhielte sich nämlich ökonomisch ähnlich irrational wie ein
Kunde, der seine Zahnpasta ausgerechnet in jener Woche bei der Konkurrenz
kaufte, in der wir sie in unseren Märkten verschenken würden. Nicht dass wir je
auf diese Schnapsidee verfielen. Aber ein Zahnpasta-Grundeinkommen würde eben
auch nur dann ohne Sondereffekte funktionieren, wenn diese überall und auf Dauer
umsonst wäre. Gibt es dagegen ein Grundeinkommen für alle von der Wiege bis zur
Bahre, spielen solche Effekte kaum eine Rolle. Denn wer wird zwanzig
unverkäufliche Bücher hintereinander schreiben wollen? Wer macht sechzig Jahre
Ferien? Würden wirklich mehr Menschen als heute lebenslang darin aufgehen, sich
um Haus, Garten, Kinder oder Angehörige zu kümmern?
Anders als bei der Labormethode würde man im Falle der Häppchenmethode ein
Grundeinkommen zwar sofort für alle einführen, dessen Betrag aber, ausgehend von
einer niedrigen Summe, in mehreren Staffeln erhöhen. Die Kernfrage hier lautet
natürlich: Mit wie viel fängt man an? Selbst wenn man unterstellt, dass ein
gesellschaftlicher Bewusstseinswandel sämtliche politischen Blockaden aufgelöst
hätte, ist dies zugleich das Problem. Setzt man den Betrag nämlich zunächst sehr
vorsichtig an, verringert man zwar die Anpassungsprobleme bei der
Neustrukturierung der volkswirtschaftlichen und fiskalischen Zahlungsströme.
Aber zugleich wird es, je niedriger man den
Betrag wählt, umso schwieriger, von seinem Grundeinkommen auch nur die
existentiellsten Grundbedürfnisse zu decken. Setzt man den Einstiegsbetrag
dagegen zu hoch an, wird man nicht nur stärker mit strukturellen Verwerfungen,
sondern zumindest in der Anfangsphase auch mit merklichen Mitnahmeeffekten zu
tun haben.
Wie auch immer man den Betrag wählt, die flächendeckende Einführung eines
bedingungslosen Grundeinkommens für alle wäre ein gewaltiges, im Grunde
beispielloses soziales Experiment.
Der Versuch, so weiter zu machen wie bisher, wäre es zwar nicht minder. Doch
meiner Neigung, zwar revolutionär zu denken, aber vorzugsweise evolutionär zu
handeln, kommt dieses Vorgehen nicht sonderlich entgegen. Am leichtesten an
heutige Einkommensstrukturen und Transferbudgets würde daher vielleicht das
anknüpfen, was ich die Wellenmethode nenne: die schrittweise Einführung eines
bedingungslosen Grundeinkommens zunächst für bestimmte Gruppen. Die Hauptfrage
lautet hier: Wer wäre das?
Mit dem Arbeitslosengeld II haben wir schon heute eine Form der
bedarfsorientierten Grundsicherung – wenn wir von den entwürdigenden Prozeduren
und teils völlig widersinnigen Voraussetzungen, die mit der
Bedürftigkeitsprüfung verbunden sind (etwa der Forderung, Altersrücklagen
aufzuzehren) zunächst schweigen.
Neben Hartz IV gibt es andere Formen der Grundsicherung. Zwei möchte ich
hervorheben: das Kindergeld – zusammen mit allen familienorientierten
steuerlichen Entlastungen – und die Grundsicherung im Alter. Selbst
eingefleischte Gegner eines allgemeinen Grundeinkommens können nicht leugnen,
dass die Sicherung der materiellen Existenz all jener eine gesellschaftlich
Aufgabe ist, die noch nicht aktiv am Erwerbsleben teilnehmen: Kinder und
Jugendliche. Ebenso gilt dies für jene, die das nicht mehr tun: die Rentner.
Umso stärker muss der Skandal ins Auge fallen, wenn es in beiden Gruppen im
unteren Einkommensbereich zu Armut kommt. Denn Kinderarmut ist gesellschaftlich
gesehen Dummheit, Altersarmut grober Undank. Eine Gesellschaft, die auch nur
einem Kind die auskömmliche Sicherung wenigstens seiner materiellen Existenz
verweigert, beschneidet ihre eigenen Zukunftsperspektiven. Die moralischen
Standards einer Gesellschaft zu beurteilen, die Armut von Menschen duldet, die
ein ganzes Leben für diese Gesellschaft etwas geleistet haben, möchte ich mir
lieber ersparen. Nun ist unser heutiges System der Existenzsicherung von Kindern
und Jugendlichen ein offensichtlich ineffizienter und höchst ungerechter Mix von
Zahlungsströmen. Ihr Grundeinkommen besteht nämlich hauptsächlich aus familiären
Transfers, dem einheitlichen Kindergeld und einem wahren Wirrwarr aus
steuerlichen Entlastungen für Familien mit Kindern – vom Kinderfreibetrag bis
zum Baukindergeld. Dass es den Kindern von Gutverdienenden und Wohlhabenden
zumindest materiell besser geht als denen von Geringverdienern, mag man – wie
alle Ungerechtigkeiten der Welt – beklagen. Ändern wird man es vermutlich nicht.
Dass sie oder ihre Eltern aber steuerlich umso mehr profitieren, über je mehr
Einkommen ein Haushalt verfügt, ist offensichtlich absurd. Es spiegelt einzig
und allein das Grundmissverständnis unseres gesamten Steuer- und Abgabensystems
wider. Ihm zufolge dienen alle Transfers im Wesentlichen nicht einer
würdigen Existenzsicherung, sondern der Sicherung eines einmal erreichten
Lebensstandards. Dabei ist nur Ersteres eine vollständig gesellschaftliche
Aufgabe, Letzteres jedoch eine rein private Angelegenheit.
Das im letzten Jahr eingeführte Elterngeld ist ein echtes Paradebeispiel für
dieses Denken. Erste Erfahrungen zeigen, dass Besserverdienende von dieser
Reform ganz besonders profitieren, während zugleich die relative Kinderarmut in
Deutschland nie gekannte Höhen erreicht hat. Das ist nicht nur ein Irrsinn,
es ist ein gesellschaftspolitischer Skandal ersten Ranges. Wie so oft hat
hier mal wieder die gehobene Mittelschicht Politik für die gehobene
Mittelschicht gemacht.
Ein Kind vernünftig zu ernähren und zu kleiden, ihm angemessenen und
altersgerechten Wohnraum sowie ausreichende Spielmöglichkeiten zur Verfügung zu
stellen, ihm vor allem eine gute Ausbildung zu finanzieren, kostet für Eltern,
die beide keine Arbeit finden, grundsätzlich das Gleiche wie für ein
Millionärsehepaar. Mehr geht immer, aber der Grundbedarf ist prinzipiell für
alle der gleiche. Ein zweites oder drittes Kind ist auch weder ‚teurer’ noch
‚billiger’ als das erste.
Also kann es für die Grundsicherung von Kindern nur ein vernünftiges Modell
geben: ein einheitliches, bedarfsgerecht bemessenes Kindergeld für jedes Kind.
Sonst nichts. Mit anderen Worten: ein bedingungsloses Grundeinkommen für Kinder.
Seine Höhe muss sämtliche Kosten des täglichen Lebens abdecken, einen
vernünftigen Etat für Spielzeug, kindgerechte Freizeitgestaltung oder Dinge wie
Sportverein und musische Bildung beinhalten – und natürlich alle Schulkosten.
Dieses rundum existenzsichernde Kindergeld muss vom Tage der Geburt mindestens
bis zum Ende der allgemeinen Schulpflicht, also bis zum 16., besser bis zum 18.
Lebensjahr gezahlt werden. Seine Höhe wird höchstwahrscheinlich vom Alter
abhängen, muss aber langfristig und im Schnitt eher über der derzeitigen Summe
aus dem Kindergeld (154 Euro) und den monatlichen Kinder- und
Ausbildungsfreibeträgen (484 Euro) liegen. Immerhin könnte man sich bei der
Festlegung eines Ausgangsbetrages an dieser Untergrenze von rund 640 Euro und
dem derzeitig im Schnitt gezahlten ALG II von rund 750 Euro pro Person
orientieren – wobei sich versteht, dass im Gegenzug sämtliche Kinderkomponenten
im Steuerrecht entfallen.
Parallel dazu müsste die heutige Grundsicherung im Alter auf eine vollständig
steuerfinanzierte Grundrente umgestellt werden. Und da es nun mal keine
unverschuldete Notlage ist, wenn ein Mensch das 65. oder 67. Lebensjahr
erreicht, wird man sich dabei schwerlich an den heutigen Hartz-IV-Sätzen
orientieren können. Schon eher könnte die obligatorische Alters- und
Hinterlassenenversicherung (AHV) der Schweiz Modell stehen, deren Höhe sich
ebenfalls am durchschnittlich erzielten Einkommen orientiert, das aber
festgelegte Ober- und Untergrenzen kennt. Bei voller Beitragsdauer in dieser für
ausnahmslos alle Schweizer verpflichtenden Versicherung beträgt eine Vollrente
zur Zeit umgerechnet mindestens 680, höchstens 1360 Euro – auch dies zumindest
ein Orientierungsrahmen.
Andererseits ist die Funktion einer Grundrente nicht die Sicherung des
vorherigen Einkommens- und Lebensstandards. Dafür müsste jeder privat vorsorgen
– wobei sich hier versteht, dass es bezüglich erworbener Ansprüche aus dem
bisherigen Rentensystem langer – im Einzelfall wohl auch komplizierter –
Übergangslösungen bedarf. Noch einmal: Systemwechsel sind nicht einfach, aber
möglich. Und dass es angesichts des vielbeschworenen demografischen Wandels
einer Umstellung der Alterssicherung auf eine steuerfinanzierte Grundrente
bedarf, ist nun wirklich keine Einsicht, auf die ich ein Copyright habe.
Warum aber ein bedingungsloses Grundeinkommen auch für jene Menschen, die gut
bis sehr gut von einem Erwerbseinkommen leben könnten? Ist das nicht am Ende
doch Unsinn? Noch einmal zur Erinnerung: Schon heute leben 62 Prozent der
Bevölkerung hauptsächlich von Transferleistungen und nur noch 38 Prozent
überwiegend von eigener Arbeit. Auch sind in Deutschland trotz des höchsten
jemals gemessenen Beschäftigungsstandes seit dem Krieg immer noch über drei
Millionen Menschen offiziell und 1,4 Millionen versteckt arbeitslos. Weitere
dreieinhalb Millionen Bürger können von einem Lohn allein nicht leben, weshalb
sie entweder mehrere Jobs haben – im Januar 2008 waren das 2,15 Millionen – oder
ihn mit Hartz IV aufstocken müssen.
Und doch geht es in Wahrheit um etwas ganz anderes. Das bedingungslose
Grundeinkommen ist überhaupt keine Antwort auf Arbeitslosigkeit, Niedriglöhne
oder die wachsende Verarmung von Teilen der Bevölkerung. Das Grundeinkommen hat
im Kern gar nichts mit Sozialpolitik zu tun, auch wenn die Debatte leider immer
noch zu stark von dieser Wahrnehmung getrübt wird.
Nein: Unsere Gesellschaft braucht ein Grundeinkommen, weil sich die
Grundbedingungen der Arbeit dramatisch verändern. Bei Maybritt Illner habe
ich einmal mit dem Schauspieler Heinrich Schafmeister diskutiert. Er ist unter
anderem aus dem Film Comedian Harmonists oder der Krimiserie Wilsberg bekannt,
und gehört zum gut beschäftigten Mittelbau im deutschen Filmgewerbe.
Schafmeister schimpfte in der Sendung kräftig auf die Politiker – zu denen er
mich in seinem gerechten Zorn fälschlicherweise auch zählte – und ihre falsche
Wahrnehmung der Arbeitswelt. Er selbst verdiene zwar mit einem Engagement im
Großen und Ganzen nicht schlecht, aber auch wieder nicht so gut, als dass er
sich zwischen zwei Projekten nicht immer wieder bei der Arbeitsagentur anstellen
müsse. An Fälle wie ihn aber würde bei allen Debatten um Arbeit, Einkommen und
Sozialtransfers niemand denken. Er sei im Grunde weder arbeits- noch
einkommenslos, er könne bloß keine bruchlose Erwerbs- und Rentenbiografie
vorweisen. Ich konnte Herrn Schafmeister damals nur völlig recht geben, auch
wenn er das während der Sendung nicht wirklich zur Kenntnis nahm. Was aber vor
allem in der Diskussion niemand bemerkte – besser gesagt bemerken wollte – war
Folgendes: Der Schauspieler ist nicht etwa ein exotischer Einzelfall, sondern
ein völlig typischer Vertreter der Arbeitswelt von heute. Natürlich wird
immer ein Großteil der Menschen erwerbstätig sein. Was Deutschland betrifft,
wird vermutlich sogar in Zukunft ein Fünftel bis ein Viertel der Beschäftigten
im verarbeitenden Gewerbe sein Geld verdienen. Doch ob in der Industrie, im
Handwerk, im Handel, im Dienstleistungsgewerbe, in der Bildung oder in der
Kultur – die Zeit der glatten Lebensläufe und der lebenslangen
Firmenzugehörigkeit ist für immer vorbei. Die Arbeitsgesellschaft des 21.
Jahrhunderts ist fundamental geprägt durch unstete und brüchige
Berufsbiografien.
In Bereichen wie der Kultur oder dem Journalismus ist das bloß schon länger
bekannt. Künftig wird es aber in der Bank oder bei einem mittelständischen
Maschinenbauer nicht anders sein. Der Job fürs Leben, die Firma als zweite
Familie – vergangene Zeiten. Regelmäßig seinen Arbeitgeber, vielleicht sogar
zwei, drei Mal im Leben völlig seinen Beruf zu wechseln wird normal sein.
Die Zahl der Freiberufler und Projektarbeiter wird dramatisch zunehmen. Auch
ganz unglamouröse wirtschaftliche Aktivitäten werden häufig wie Filmproduktionen
ablaufen: Hoch spezialisierte Expertinnen und Experten schließen sich für ein
bestimmtes Projekt zusammen, und wenn es abgeschlossen ist, zerstreuen sie sich
in alle Winde, um in neuer Zusammensetzung irgendwann das nächste in Angriff zu
nehmen. Firmen, wie wir sie heute kennen, werden dann vielleicht noch als eine
Art Keimzelle für solche Projekte fungieren. Aber ganz gewiss werden sie keinen
Menschen mehr als Lehrling einstellen und ihn mit 65 Jahren, versehen mit einer
goldenen Uhr, in die Rente entlassen. In dieser neuen Arbeitswelt ist nur der
Wechsel dauerhaft. Jeder wird vorübergehend, mal kürzer, mal länger, keinen
Erwerbsarbeitsplatz haben. Die meisten Menschen werden irgendwann in ganz
anderen Berufen arbeiten als jenen, die sie erlernt haben.
Dazwischen werden längere Phasen des Neu-, Um- und Hinzulernens liegen. Doch das
muss letztlich finanziell ermöglicht werden – sonst wird der Begriff des
lebenslangen Lernens zur Farce. Wir werden aufs Leben gerechnet länger arbeiten,
dafür aber verstärkt Auszeiten für uns selbst, für die Gründung von Familien,
für soziale, politische oder kulturelle Projekte nehmen. Selbst über unseren
ganz normalen Urlaub werden in Zukunft nicht mehr Tarifverträge und Arbeitgeber
entscheiden – Mitarbeiter werden selbstständig untereinander ausmachen, wann und
wie viel Zeit sie benötigen, um sich zu erholen. Doch keine Flexibilität ohne
ein Fundament. Wenn in der Arbeitswelt alles diskontinuierlich und obendrein
wirtschaftlich riskant wird, dann kann es unmöglich sein, dass das, was jeder
Mensch kontinuierlich und garantiert braucht, nämlich ein Einkommen zur
Sicherung seiner Grundbedürfnisse, auch allein aus Arbeit stammt. Wer daran
festhält, dass Arbeit nur Erwerbsarbeit und Einkommen nur Erwerbseinkommen
bedeuten kann, der sieht die Realität des gesellschaftlichen Wandels daher
ungefähr so klar wie jemand, der den ersten Industriearbeitern zur Sicherung
ihres Nahrungsbedarfs einen Gemüsegarten hinter die Mietskasernen pflanzen
wollte. Nur unter dem Druck der Verhältnisse haben die Menschen damals langsam,
teils auch widerwillig begriffen, dass die Epoche der bäuerlichen
Selbstversorgung unwiederbringlich vorbei war. Wie lange und unter welchen
Schmerzen sich unsere Gesellschaft der Erkenntnis vom Ende des
Normalarbeitsverhältnisses und der gegenläufigen Notwendigkeit eines
bedingungslosen Grundeinkommens verschließen will, haben wir alle in der Hand –
oder besser gesagt: im Kopf.
Ich versuche meine Vorträge so zu gestalten, dass die Menschen nachher mit
Fragen heimgehen, nicht mit fertigen Rezepten. Denn ich bin kein Politiker, der
Leute überzeugen, Parolen verbreiten, Wahlen gewinnen und dann sein Programm
oder bestimmte Lobbyinteressen durchsetzen will. Ich will meine Zuhörer – und
meine Leser – skeptisch machen. Erst im Zweifel eröffnen sich mögliche
Alternativen. Nicht anders ist es letztlich mit diesem Buch. Sie sollen am Ende
der Lektüre der Idee des bedingungslosen Grundeinkommens nicht zujubeln. Es
genügt, wenn Sie sich fragen, was Sie selbst unter dieser Voraussetzung anders
machen würden. Und ob vielleicht bestimmte Dinge in ihrem Leben und in der
Gesellschaft mit einem Grundeinkommen nicht besser zu lösen wären.
Ich werde oft gefragt, ob und wann denn meiner Meinung nach ein bedingungsloses
Grundeinkommen eingeführt wird. Ich zitiere dann gerne den französischen
Schriftsteller Victor Hugo, der einmal gesagt hat, nichts auf der Welt sei so
mächtig wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist. Nun ist zwar nach Meinung
vieler die Zeit für die Idee des Grundeinkommens sehr wohl gekommen. Doch
natürlich habe ich keine Ahnung, wann die Mehrheit der Gesellschaft das ebenso
sieht.
Allerdings:
Am 9. November 1989 um 18 Uhr hatte auch kein Mensch auf der Welt damit
gerechnet, dass die Mauer fällt.
© Götz Werner 2008