Frei bleiben und neutral

Frei bleiben und neutral

s ist ein unglaubliches Jahr, das jetzt zu Ende geht. Überall scheint es zu kriseln, einstige Selbstverständlichkeiten sind nicht mehr selbstverständlich. Nur wenige Flugstunden von Zürich entfernt haben wir Krieg. Die Grossmächte Russland und Amerika stossen in der Ukraine aufeinander. Den Westen schütteln Probleme. Frankreich und Deutschland sind theoretisch und tatsächlich regierungslos. Die deutsche Automobilindustrie serbelt auf der Kriechspur. Noch vor kurzem schien in Europa ewige Hochkonjunktur zu herrschen. Doch der Aufschwung von Gold und Krypto ist ein Symptom, dass die Leute ihr Geld in Sicherheit bringen, den etablierten Systemen misstrauen, Scheinwerte, Blasen überall. Ein Wunder fast, dass unsere heillos verkrachte Welt noch steht. Oder ein Indiz für höhere, uns wohlgesinnte Mächte?

Als Oase relativer Unversehrtheit hält sich die Schweiz erstaunlich gut auf sturmdurchtoster See. Unter Blinden ist der einäugige König. Das ist keine Beleidigung der Blinden, sondern der Versuch einer Mahnung, sich nichts einzubilden auf den eigenen Erfolg. Denn auch unser Land ist auf der schiefen Bahn, was nicht verwundert aufgrund des krösushaften Wohlstands, den uns die Vorfahren hinterlassen haben. Reichtum macht dekadent, dazu muss man nicht die «Buddenbrooks» gelesen haben. Wem es zu lange zu gut geht, der neigt dazu, seine privilegierte Lage für naturgegeben zu halten. Das ist sie nicht. Der Naturzustand der rohstoffarmen Schweiz ist die Armut. Bevor die Eidgenossen Produkte, Pülverchen und Chemikalien, Maschinen weltweit exportieren konnten, exportierten sie sich selbst, als Söldner in fremden Heeren.

Das Erfolgsrezept der kleinen, stets verwundbaren Schweiz war die Vorsicht, die Sparsamkeit, das Beharren auf der Unabhängigkeit, das Misstrauen gegen die Macht. Wir bestimmen selber, wie wir leben wollen. Denn die Schweizer wissen besser, was gut ist für die Schweiz, als ferne Fürsten oder Richter. Weil unser Land so klein war, konnten wir uns keine Abenteuer leisten, keine teure Politik, keine Prachtentfaltung an Höfen und Palästen. Von den Gebirgskantonen der Gründerzeit im späten Mittelalter hat sich eine robuste, arbeitsame Lebensart vererbt. Der frühere FDP-Politiker und Industriemanager Ulrich Bremi erklärte dem deutschen Magazin Der Spiegel einst vergnügt, die Schweizer seien reich geworden, weil sie am Morgen früher aufstehen und am Abend länger arbeiten.

Was ist davon geblieben? Als Journalist war ich dieses Jahr für Interviews im Ausland, in der Ukraine, in Russland, in Ungarn, in Deutschland, in Österreich, in den USA, in China, im Nahen Osten oder in Vietnam. Besorgniserregend oft hörte ich die Frage: «Was ist mit der Schweiz los?» Mehr enttäuscht als vorwurfsvoll sprachen mich Asiaten und Russen, aber auch Amerikaner auf die Neutralität an. Warum nur beteilige sich die Schweiz am Krieg in der Ukraine? Weshalb habe man die jahrhundertealte Neutralität preisgegeben? Auf einem Podium in Sotschi geriet ich darüber in einen Streit mit der Sprecherin des russischen Aussenministeriums, Maria Sacharowa. Sie nahm meine Teilnahme zum Anlass heftiger Kritik, worauf ich den Bundesrat in Schutz nahm, obschon ich Sacharowa innerlich in vielem leider recht geben musste …

 

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